Susi Qu. 

kleine private Homepage 

        

        

 Köln via Görlitz

 

3 Tage im November 1989


Das Jahr 1989; wer hätte im Januar daran gedacht, was alles passieren würde? Wohl niemand, außer vielleicht ein paar Protagonisten, die wussten, dass ihr Stern unweigerlich untergehen musste.

Die Menschen im „Westen“  jedenfalls hatten wie immer andere Sorgen und die kleinen Hinweise richtig zu deuten, vermochten sicher nur wenige.

Als das große Ereignis dann eintrat, waren alle gleich überrascht und überwältigt, hüben wie drüben.

Im November 1899 war es schon eingetreten,  die Berliner Mauer fiel in der Nacht von Donnerstag, dem 9. November, auf Freitag, den 10. November.

Diese kleine Geschichte spielt  in der Zeit zwischen dem 21. Und dem 23. November, sicher nichts Weltbewegendes, eher ein kleines Erlebnis am Rande der großen Geschichte, aber, ein Zeitzeugen-Bericht.

Sie spielt hauptsächlich in Görlitz, doch schon der Weg dahin war ein Abenteuer.

Vorangegangen waren die Ausstellung eines Reisepasses, die Beantragung von Visa und der Zwangsumtausch in DDR-Mark.

Der Grenzübertritt bei Herleshausen, es ist 22.30 Uhr,  ist ein traumatisches Erlebnis, das alle Klischees bewahrheitet.

 “ Papiere, wo wollen sie hin, in wessen Auftrag, wie lange bleiben sie, wann reisen sie wieder aus?“ Das gleich an vier Kontrollstellen, vorbei an Panzersperren und Rammböcken. Verzichtet wird auf eine gründliche Durchsuchung aufgrund zweier Flaschen Cognac, die den Besitzer wechseln. Dann endlich die Visumsstempel in die Pässe.   

Nun läuft alles rückwärts ab, Panzersperren, Zäune, Stacheldraht, taghelles Licht, bis schließlich die Fahrbahn langsam wieder zu einer normalen Straße wird, hinter der  Grenze vollkommene Dunkelheit.

Die Autobahn ist eine einzige Katastrophe, man kann wegen der Dunkelheit gar nicht sehen, auf welcher Piste man unterwegs ist, man spürt aber die Schlaglöcher, und hofft dauernd, dass das gleich vorbei ist, und mal ein normales Stück Straße kommt. Kommt aber nicht. So geht das ein paar Stunden, dass eine größere Stadt in der Nähe ist kann man nur erahnen, wenn man das einzige Hinweisschild nicht übersehen hat, oder aber einen unangenehmen Geruch wahrnimmt, wie anfangs auf der Höhe von Eisenach. Nach der einzigen größeren Rastanlage in der Nähe von Dresden, beginnt dann auch noch ein Wetterchaos, zuerst Eisregen, dann ein Schneesturm, und binnen 20 Minuten geht nichts mehr. Auf einem kleinen Rastplatz an einer Steigung ist erst mal Schluss. Alles was jetzt unterwegs ist, drängt sich dort zusammen. Die Zwangspause dauert bis zum nächsten Morgen. Es geht im Schritttempo weiter, es schneit immer noch, einige Mutige, die weitergefahren waren, liegen im Straßengraben.

 

 Die Autobahn endet in Bautzen, bis dahin sind es etwas weniger als 50 Kilometer, die in etwas mehr als einer Stunde geschafft sind. Am Autobahnende geht’s auf eine Landstraße, die heißt B6 und geht bis Görlitz, allerdings mit Hindernissen.

Natürlich ist die nicht geräumt, lediglich die Fahrspur von anderen Wagen weist den Weg, darunter erstaunlich viele Lkw, aber vorsintflutlich, so um 14/18 herum gebaut. Nun ist Schritttempo angesagt und zwar für etwa noch mal 50 Kilometer bis Görlitz, meist aber stop and go. Das kommt erstens durch die Lkw und zweitens durch die Berg- und Tal-Bahn, die die Straße vollführt. Immer, wenn ein Hügel kommt, hält die Kolonne an, und der erste nimmt Anlauf, hat er die Höhe erreicht kommt der zweite an die Reihe usw., das gleiche Spiel beim abwärts fahren. 



 

 

 Görlitz wird um 12.30 Uhr erreicht, und der erste Eindruck ist niederschmetternd, der erste Gedanke: eine Geisterstadt. Es mutet an wie eine Gebirgsschlucht, links und rechts nur graubraune, schmutzige Fassaden von immer gleichen dreistöckigen Häusern, keine Farbe, abblätternder Putz, kaputte Fensterläden, schiefe Haustüren, erstaunlich groß, offensichtlich in Hinterhöfe führend. Keine Geschäfte, keine Lichter, und vor allem, keine Menschen, kein Leben, nicht mal ein Hund oder eine Katze. Große Schilder allerdings, die alle auf die Grenze hinweisen, es geht immer nur geradeaus.  Auf diesem Weg liegt auch der Bahnhof, man bemerkt es aber nicht, da er nicht als solcher zu erkennen ist. Man  nähert sich nun der Grenze, die Straße wird hier etwas abschüssig, und bevor man hinter einer Rechtskurve dort ankommt, geht es erst mal Stopp and go, es gibt einen Stau.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 




An dieser Stelle ist zu bemerken, dass die Reise eigentlich nach Polen gehen sollte, aber, das wird nun verworfen, nicht bei diesem Wetter, wer weiß, was einen dort noch erwartet. Das Auto wird an andere Mitreisende übergeben, das Gepäck geschultert, und nun soll es so schnell wie möglich wieder nach Hause gehen, mit dem Zug.

Aber, da fangen jetzt die Probleme an. Zu Fuß im Zollgebäude angekommen,  findet man einen erstaunlich freundlichen Beamten vor, der bereit ist, sich das Problem anzuhören. Da man mit dem Pkw eingereist ist, und nun mit dem Zug wieder ausreisen will, müssten die Papiere umgeschrieben werden, meint der Zöllner, und es gibt  keinen Grund, das anzuzweifeln, jedenfalls da noch nicht. Die Stempel in den Pässen besagen, dass die Einreise in die DDR am  22.11. erfolgt, und am 23.11. die Ausreise; die Stempel des polnischen Konsulats erlaubten einen Aufenthalt in Polen von vier Tagen. Von dem Auto  steht da gar nichts, dafür gibt  einen extra Schein. Der Zöllner jedenfalls meint nun, er könne das leider nicht erledigen, er müsse sich telefonisch erkundigen, man solle in einer viertel Stunde wiederkommen.  Zum Glück hat man  warme Kleidung dabei,  dicker Anorak, Mütze, Handschuhe, Schal, das hilft jetzt schon mal. Es ist ganz schön kalt im Osten.

  

Zuerst also zum Zoll zurück, der Beamte ist immer noch am Telefon. Als er herauskommt, erklärt er, er könne wie gesagt, den Visumsstempel nicht abändern, das mache sein Kollege am Bahnhof. Man solle Punkt 16.00 beim Zollhäuschen auf Gleis 14 sein, dort werde sein Kollege den Stempel ändern. Das sollte ja nun kein Problem sein, zum Bahnhof will man ja ohnehin, dann also los. 

 

 

Der Weg dahin ist an Kuriositäten nicht zu überbieten, angefangen von dem vergeblichen Versuch eine Bushaltestelle zu finden, geschweige denn Taxi zu ordern ( es findet sich gar eine Telefonzelle, aber ohne Münzen geht da nix, also wird ein Fünf DDR-Mark Schein in Münzen gewechselt, nach dem vergeblichen Versuch an einer Haustür :“gehn se weg hier“, ist ein junger Mann nach anfänglichem Misstrauen  zu dem Geschäft bereit; Taxizentrale steht auf einem Schild, der Hörer ist kaputt, kann aber mit etwas Geschick doch bedient werden, es läutet ca. 15 Mal, dann nochmal und nochmal, es hat keinen Sinn, da meldet sich keiner.). Erstmal zu Fuß den Weg zurück, bis schließlich doch eine Haltestelle kommt. Inzwischen hat es wieder stärker zu schneien angefangen, Mütze, Schal und Handschuhe sind schon nass. . Laut Fahrplan soll alle zehn Minuten ein Bus fahren, es kommt aber keiner. Nach 20 Minuten geht es  weiter, man darf nicht so lange trödeln, schließlich ist  um 16 Uhr der Termin am Bahnsteig.

 

 

 

 


Dieser Fußmarsch gibt nun Gelegenheit, sich die Häuser beiderseits der Straße genauer anzuschauen, und es ist erschreckend, wie diese Eintönigkeit einen schier erschlägt. Alle Häuser sehen gleich aus, gleich grau und gleich schmutzig. Die meisten haben ein großes Tor in der Mitte, wahrscheinlich das Tor zu einem Hinterhof. Alle sind verschlossen, kein Mensch ist zu sehen, kein Licht in den Fenstern, die Fensterläden schief und die Farbe abgeblättert, die Fenster schmutzig. Ab und zu gibt es einen hellblauen Farbtupfer, mal ein Geländer, mal ein Fensterrahmen oder Fensterbrett, einmal sogar eine ganze Haustür, scheinbar hat es irgendwann mal eine Ladung blauer Farbe in einem HO-Laden gegeben.

Da kommt man  ins Schwitzen, und es wird einem bewusst, wie lange man  keine Dusche mehr hatte, ja, nicht mal die Hände hat waschen können.

Läden gibt es nicht in dieser Straße, schon gar keine Reklameschilder oder Leuchtreklame, was ja nicht unbedingt immer schön sein muss, im Westen allerdings zu einer Stadt gehört, wie das Salz in der Suppe, und zusammen mit den Geschäften eine Innenstadt erst leben lässt.

Kurz vor der nächsten Haltestelle kommt tatsächlich ein Bus, einsteigen, „zum Bahnhof“, jeder zahlt 20 Pfennige, da machen sich die Münzen also doch noch bezahlt.

Ein paar Haltestellen weiter endlich der Bahnhof. Davor die „Taxi-Zentrale“, eine Art Megaphon an der Wand neben dem Eingang, darunter ein Schild mit der Aufschrift „Taxi“, und aus dem Megaphon schrillt eine Klingel und schrillt und schrillt, ein Taxi allerdings ist nirgends zu sehen, wahrscheinlich gibt es gar keins. Das Innere dieses Bahnhofes macht alle  Hoffnungen sofort zunichte.  

Die Halle ist rechteckig, führt rechts und links vom Eingang etwa je zehn Meter weit. Sie ist grau und kalt, wie die Häuser draußen. Am linken Ende steht über einer halb verglasten Wand  “Bahnhofsgaststätte“, es dringt jedoch kein Licht nach draußen, die ist zu. Dem Eingang genau gegenüber ist der Zugang zu den Gleisen, rechts und links davon gibt es zwei Fahrkartenschalter, einer für In-, einer für Ausland, daneben sind die Fahrpläne ausgehängt. Vor Inland steht eine Schlange. Woher kommen die denn alle, und wo wollen die alle hin?  An der rechten Stirnseite ist der Eingang zu einem Büro, das ist tatsächlich beleuchtet. An der Seite rechts vom Eingang steht noch eine Schlange, wahrscheinlich noch ein Fahrkartenschalter. Als erstes jetzt zum Gleis 14. Ein langer, dunkler und zugiger Durchgang führt zu den Gleisaufgängen. Gleis 14 ist bis auf ein paar Funzeln stockdunkel und menschenleer. Links kann man in weiter Ferne ein Häuschen ausmachen und als es es endlich erreicht ist, längst nicht mehr unter der Überdachung, stehen man vor dem dunklen Zollhäuschen, ein Zöllner ist aber weit und breit nicht zu sehen. Es ist noch nicht ganz 16.00 Uhr, also warten, fast eine halbe Stunde, ohne dass sich irgendetwas regt. Völlig durchgefroren denkt man jetzt, wenn ihr nicht wollt, dann scheißen wir euch drauf, wir fahren jetzt heim, mit oder ohne euren verdammten Stempel.

Das mit dem Stempel, dämmert es immer mehr, ist die reine Schikane. Es gibt einen gültigen Einreisestempel im Pass, und von den Papieren für den Wagen muss der Kontrolleur im Zug ja gar nichts wissen. Die haben sie richtig verarscht.

Zurück in der eiskalten Schalterhalle wird das Büro aufgesucht, da steht „Auskunft“, und nach dem nächsten Zug nach Frankfurt am Main gefragt. Da drin ist es wenigstens mal wohlig warm. Hinter einem Tresen stehen 3 Frauen in blauen Nylonkitteln, die Bedeutung dieser Kittel wird man noch kennen lernen. Der nächste Zug gehe morgen früh um 7.00 Uhr, ob man schon eine Fahrkarte habe? Oh mein Gott, noch mehr als 12 Stunden in diesem Loch, eine ganze Nacht lang. Nach einer halben Stunde Anstehen am Schalter heißt es:“ Hier ist Inland, sie müssen zum Auslandsschalter“. Die Frau im blauen Kittel hat ein bisschen Mitleid und spendiert eine Tasse Kaffee, und jetzt meldet sich auch der Hunger an, bis auf eine Tafel Schokolade und ein paar Keksen und zwei kleine Orangensaft, ist vom Reiseproviant nichts übrig geblieben. Aus einem Impuls heraus bekommt die Frau einen 10-Mark-Schein und wird gefragt, wo man denn hier was zu essen bekäme, schließlich hatte man ja jetzt viel Zeit. Flugs ist der Schein verschwunden, und die Auskunft lautet, gegenüber vom Bahnhof die Straße rein, einmal um die Ecke, da gibt es ein Café, das wahrscheinlich noch geöffnet hat.

Zwischenzeitlich ist mal eine Putzfrau hereingekommen, um den nassen Schmutz aufzuwischen, der von draußen hereingetragen wird. Die wird dermaßen zusammen geschissen von den freundlichen Auskunftsdamen, dass schlagartig klar wird, was die blauen Kittel bedeuten.

Ein blauer Nylonkittel ist Obrigkeit, alles darunter ist Abschaum, vor allem darüber, vielleicht rot, würde man wahrscheinlich buckeln. Eine neuerliche Demonstration, wie diese Leute mit ihresgleichen umgehen, wenn sie sich als führendes Organ wähnen. Diese Erfahrung sollte man noch mehrmals machen.

Das Café hat noch geöffnet, aber, zu essen gibt es „nischt“. Es ist erstaunlich groß, und einladend eingerichtet,  bis auf einen einzigen Gast aber leer. Der Kellner  ist nicht gerade begeistert vom Erscheinen der Gäste, geschweige denn von ihrem Ansinnen: „Essen is nisch“ ist die wenig freundliche Antwort, wenigstens gibt es  Kaffee, der kostet auch fast nichts. Ermutigt durch die Erfahrung mit dem Westgeld, denkt man sich: “wenn man  genügend nachschießen, bekommt man  von der Tussi am Bahnhof doch alles“.  Die bösen und gemeinen Gedanken beginnen sich zu etablieren.

Also zurück zum Bahnhof, neues Spiel, neues Glück. Die Fahrpläne werden jetzt mal näher unter die Lupe genommen.  Den Zug nach Frankfurt hatte man  automatisch nachgefragt, weil es logisch ist, es ist der kürzeste Weg, und wo soll man sonst auch hin. Neben den Fahrplänen hängt eine Zugaufstellung, genau wie im Westen, und da sticht es geradezu ins Auge: ein Zug nach Köln, gleich jetzt, um 17.30 Uhr. Menschenskinder, dann nix wie ab nach Köln, Hauptsache raus hier, Hauptsache Richtung Heimat. Ach, und die Schlange gegenüber, das ist kein Fahrkartenschalter, da gibt es tatsächlich Bratwürste. Da läuft einem ja Wasser im Mund zusammen, aber, dafür kann gar keine Zeit bleiben, denn was dort abgeht, ist für kaum zu fassen. Jedes Mal, wenn ein Warter an der Reihe ist, wird der Schalter kurz geöffnet, die Wurst herausgereicht, dann wieder geschlossen, immer so fort, bis der nächste Warter an der richtigen Stelle steht, auf, Wurst raus, zu. Gerade verlässt eine Mutter mit zwei Kindern frustriert die Schlange, wahrscheinlich verpasst sie ihren Zug, wenn sie auf die den Kindern versprochene Wurst wartet.

Jetzt aber zurück zu den Auskunftsdamen und nach dem Kölner Zug gefragt. „Natürlich, den können se auch nehmen, dann kaufen sie sich mal ne Fahrkarte“. Also nix wie weg zum Auslandsschalter und ,“ wir reisen erster Klasse“.  Auf die Frage, wann der Zug in Köln ankommen wird. „Morgen früh um acht Uhr, der fährt Zug durch halb Deutschland. Die Route ist: Görlitz-Dresden-Leipzig-Halle-Magdeburg-Helmstedt-Marienborn-Grenzübergang, dann Wolfsburg, Hannover- Bielefeld-Hamm-Dortmund-Düsseldorf-Köln. Sei`s drum, sei`s drauf, man will heim.

Die Fahrkarten, zweiter Klasse, kosten 330 DM. Erster Klasse-Aufschlag 120 pro Person, oder, hier bis zur Grenze in Ost-Mark und dann im Zug in der BRD nachlösen. Man hat sich klugerweise für Nachlösen auch der 1.Klasse hier im Zug entschieden, denn, es wurde gesagt, eine Fahrkarte erster Klasse bedeute nicht zwangsläufig auch einen Platz in der ersten Klasse. Dieses Problem löste man aber mittels eines weiteren 10-Mark-Scheines bei der blauen Lady. Die sagt, der Zug komme leer aus Breslau???, und sie kenne den Schaffner, der dann übernimmt. Für 10 DM wäre der sicher bereit, einen Platz in einem  Erste- Klasse-Abteil zuzuweisen. Man solle nur zusehen, dass man sich am Zug- Ende anstellt. Bei „Anstellen“ wird man sofort wieder skeptisch, man kann natürlich nicht ahnen, was da auf einen zukommt.  Dann sind die Formalitäten geklärt und es geht  auf den Weg zum Zug. Es ist schon fast halb sechs. Bleibt noch das Problem mit dem Stempel, aber, das ist ja inzwischen keins mehr, wie man fest glaubt. 




 

 

 

 Auf dem Gleis angekommen, wartet auch prompt die nächste Überraschung. Da sind haufenweise Leute, obwohl der Bahnhof ansonsten leer ist, bis auf die Schlangen am Schalter natürlich, aber, wieso wollen die alle nach Köln, und, dürfen die das überhaupt.

Es gelingt  sich durchzuschlängeln nach links, da liegt Breslau und also das Ende des Zuges, wo man sich postieren soll.

Zwischen Bahnsteig und Gleiskörper gibt es einen durchgehenden ca. 2 Meter hohen starren Zaun mit in bestimmten Abständen eingelassenen, abgeschlossenen Toren und es gelingt , sich vor das letzte Tor zu stellen, da will anscheinend sonst keiner hin, und also warten.

Auch als der Zug dann einfährt, werden die Tore nicht geöffnet, obwohl er leer ist, und nicht etwa zuerst Leute aussteigen müssen.

Die Leute am Bahnsteig scheint das nicht zu wundern, in stoischer Ruhe, außer gelegentlichem Füße scharren und Hände reiben wegen der Kälte, stehen sie einfach da und warten. Es wird auch kaum gesprochen, obwohl es inzwischen immer mehr werden; eine solche Menschenmenge hätte auf einem Bahnsteig in Westdeutschland einen erheblichen Lärmpegel verursacht. Außer gelegentlichem Flüstern, wagt man gar nicht miteinander zu sprechen, so unheimlich und einschüchternd ist die Atmosphäre, nicht mal die Kinder hört man. Langsam dämmert aber, was hier abgeht.

Die vielen Kinder? Zuerst hat man sich ja nur gewundert, wieso in einem so trostlosen Bahnhof plötzlich so viele Menschen auftauchen, die abends um halb sechs mit einem Bummelzug durch halb Deutschland nach Köln fahren wollen. Aber, nicht mehr an den 9.November und seine Folgen gedacht, und jetzt auch andere Sorgen. Und wie man so dasteht und die Leute um sich herum betrachtet,  gehen einem ziemlich üble Gedanken durch den Kopf. Da haben Väter ihre Kinder auf den Schultern, bekleidet nur mit dünnen Anoraks und ohne Mützen, Kleinstkinder liegen in Wagen und Taschen, zur Bewegungslosigkeit verdammt auf dem zugigsten und kältesten Bahnsteig der Welt.

Bevor die Frage im Hirn auftaucht, warum lassen die nicht wenigstens die kleinen Kinder zu Hause?, weiß man auch schon die Antwort.

Natürlich bekommen die Kinder auch Begrüßungsgeld. Die Logik teilt sich ja mit, allein es fehlt das Verständnis; hatte an  doch an diesem Tag schon genug erlebt, um die Abneigung gegen alles hier mehr und mehr anwachsen zu lassen. Die Wut, gepaart mit dem Unverständnis über die Gelassenheit der Menschen hier, auch angesichts der Willkür und Gängelei der Polizisten und Bahnbeamten, die hinter der Absperrung ungerührt hin und her laufen, wächst von Minute zu Minute, ebenso aber die Entschlossenheit, sich hier gar nichts gefallen zu lassen.

Sich hier stehen zu sehen mit all den anderen Lämmern, die warten, dass der wärmende Stall geöffnet wird, während ihre Füße zu Eisklumpen gefrieren, lässt der Wut freien Lauf. Zum Glück, es ist mittlerweile 18.00 Uhr, werden jetzt die Tore geöffnet, und es kommt Leben in  die eingefrorene Menge. Nun  geht ein Geschiebe und Gedränge los, natürlich will jetzt jeder der erste sein, keine Rücksicht auf Kinder oder Kinderwagen, schließlich ist sich jeder selbst der nächste.

 Genau richtig positioniert ist man mit den ersten am Tor, gleich vor dem letzten Wagen und trifft auch prompt auf den Schaffner. Dem muss man  nur den Namen der blauen Fee nennen, 10 DM in die Hand drücken, und sofort weiß der Bescheid, und geleitet einen persönlich in ein Abteil erster Klasse, ganz für sich alleine und Raucher.

Man könnte sich im Paradies wähnen. Das Abteil ist warm und man kann sich tatsächlich mal richtig gemütlich hinsetzten.  Der Witz des Tages ist dann der Erster-Klasse-Aufschlag. Wo man am Schalter pro Person 120 DM hätten zahlen sollen, bekommt man  ihn hier für 10 Ostmark pro Nase und zwar bis nach Köln. Natürlich protestiert man nicht, der Schaffner verabschiedet sich mit einem freundlichen „gute Fahrt“. Endlich allein, kann man seiner Erleichterung freien Lauf lassen, sich umarmen und kichern wie kleine Kinder. Der Restproviant wird auf dem Fensterbrett sortiert, ein Paar Kekse, etwas Schokolade und ein paar kleine Tetra-Pack Orangensaft. Viel ist das nicht, aber wenn man bis jetzt nicht verhungert ist, hält man auch diese Nacht noch durch, und morgen früh, zurück in der Zivilisation, wird sich der Bauch voll geschlagen.

 Die Reisetasche im Gepäcknetz verstaut, die Sitze nach vorne gezogen und die Beine hochgelegt. Die  Müdigkeit spürt man nun in allen Knochen und jetzt erst mal nur noch die Augen zumachen und ein wenig schlafen, und am liebsten erst wieder wach werden, wenn der Zug in Köln einrollt. Daraus wird aber nix. Als der Zug endlich losfährt, geht ein Geratter und Gewackel los, das die ganze Nacht anhalten soll. Man könnte glauben der Zug führe ununterbrochen nur über Weichen, draußen immer wieder Lichter, als wäre man dauernd auf irgendeinem Bahnhof, nie auf freier Strecke. Der wahre Zirkus soll aber erst losgehen.

Also wieder aufsetzen und ein paar Kekse essen, etwas trinken und  den Tag kurz Revue passieren lassen. Viel kommt dabei aber nicht heraus, was da auf einen eingestürmt ist, will erst mal verarbeitet sein. Also wieder lang strecken, und die Erschöpfung lässt schließlich doch die Augen zufallen macht einem  mehr oder weniger unruhigen Schlaf Platz.

Daraus aufgeschreckt wir man durch einen Knall, der sich anhört, wie eine kleine Explosion, gefolgt von einem Wort, wie aus einem Maschinengewehr abgeschossen: “Fahrkartenkontrolle“. Sofort  hellwach und folgt man dem Befehl: “Nehmse mal die Füße da runter“. Der Partner braucht ein paar Sekunden länger, ihm ist es ohnehin ein Graus, plötzlich und unsanft aus dem Schlaf gerissen zu werden. Das handelt ihm sofort ein „na wird’s bald“ ein, abgefeuert aus einem weiblichen Mund, im geübten Kasernenhofton.

Noch etwas benommen, weiß er nicht gleich, worum es geht, als es ihm dann dämmert, überlegt er fieberhaft, wo er die Fahrkarten hin getan hat, tastet zuerst seine Kleidung ab, bevor er aufsteht, um in die Reisetasche zu greifen. Das dauert der Kontrolleurin dann doch zu lange und sie bellt ein „maln bisschen dalli“ hinterher. Schließlich hat er die Pässe gefunden, in die er die Fahrkarten gelegt hat, und da geht eine wundersame Wandlung mit dieser Frau in Blau vor sich. Angesichts der bundesdeutschen Reisepässe wird aus ihr umgehend ein menschliches Wesen.“ Sie sind Bürger der BRD“, sagt sie,  schaut sich kurz die Fahrkarten an, sagt sie müssten an der Grenze noch mal nachlösen (he)?, bedankt sich und wünscht eine gute Reise, und,“ ach ja, wenn sie die Beine hochlegen wollen, ziehen sie doch bitte die Schuhe aus“, und entschwindet, wobei sie die Schiebetür ganz sanft hinter sich schließt. Da muss man erst mal lachen, „siehst du so gehen die miteinander um, obwohl sie alle im gleichen beschissenen Boot sitzen, findet sich immer noch einer, den man treten kann. Unsere Pässe haben uns wahrscheinlich davor bewahrt, dass wir an den Haaren von den Sitzen gezogen und gezüchtigt wurden“. Wenn man aufs Klo muss, wird es abenteuerlich. Wie viel Uhr ist es eigentlich? man  hat keinen blassen Schimmer. Wenn man das Abteil verlässt, wundert man sich über die vielen Menschen, die da im Durchgang stehen und sitzen, dass der Zug zwischendurch auch angehalten hatte und neue Fahrgäste zugestiegen sind, und zwar eine ganze Menge, hat man verpennt. Man  kommt kaum durch auf dem Weg zum Ende des Ganges, wo das WC ist. Sogar da, wo zwei Waggons zusammengefügt sind, sitzen Leute auf den sich dauernd bewegenden Eisenplatten auf ihren Koffern. Über die Koffer wundert man sich, was haben die denn da drin, für einen Tag?

Das war der letzte Weg zum Klo, wegen späterer unüberwindbarer Hindernisse.

Das Quietschen des Zuges besagt, wir halten, und zwar in Dresden.

Der Bahnsteig ist hell erleuchtet und voller Menschen, und alle steigen in den Zug ein. Man  denkt noch, wie soll das denn gehen, da wird auch das  Abteil schon aufgerissen und es heißt: “machen se mal Platz da“, während mindestens 8 Personen hereindrängen, von denen vier gleich mal Platz nehmen, dann zwängen sich noch zwei dazu und es heißt: „rücken se mal“, woran  aber nicht im Traum zu denken ist, und man behauptet seinen Fensterplatz in normaler Sitzposition bis zum bitteren Ende. Die Tür zum Abteil bleibt nun offen, weil auch im Türrahmen schon welche stehen, und der Flur ist jetzt gerammelt voll, da ist kein Durchkommen mehr. Jetzt wird der Zug wohl nicht mehr halten, könnte man meinen, mehr geht ja nun wirklich nicht mehr. Weit gefehlt.

Und nun gibt’s auch gleich die erste Lektion in Punkto, “ wir sind das Volk“. Mir gegenüber sitzt eine Dame, die offensichtlich gar nicht fassen, kann, wie unbeteiligt die beiden dahingehängt sind, und schnattert los mit ihren Kumpels, und erzählt ihre Lebensgeschichte, vornehmlich die der letzten Monate und Montage. (Man könnte nach dieser Nacht dem Wort „Montags-Demo“ nie wieder etwas Positives abgewinnen). Zwischendurch schaut die Wortführerin immer wieder strafend zu den Westkeksen, Westgetränken und vor allem Zigaretten, die im Besonderen, und ich gehe dazu über, ihr deren Rauch ins Gesicht zu blasen, in der Hoffnung, dass die dann vielleicht mal die Fresse hält, aber mitnichten. Es macht aber tierischen Spaß, die Kuh zu ärgern, und deren nach Züchtigung schreiender Blick gibt mächtig Auftrieb.

Da ist es wieder, selbst jahrelang gegängelt, ist diese Frau nun nicht in der Lage, andere in Frieden zu lassen, nein, sie muss ihr Unbehagen zur Schau stellen und sucht schon wieder einen Schuldigen.

Zwischendurch versucht sie noch ein paar Mal vergeblich aufzurücken, versteigt sich sogar zu der Bemerkung, da seien doch auch Kinder, die sitzen wollten (da hätte sie mal aufstehen sollen). „Hallo“, sage ich „ schleife ich etwa meine Kinder mitten in der Nacht durch die halbe Republik? “Die Blicke, die man erntet, gehen aber am Arsch vorbei, es macht  Spaß, zu provozieren, ein kleiner Vergeltungsakt, für alles, was man bis dahin hier ertragen musste. Schließlich sitzt man in einem Erste-Klasse-Raucherabteil, für das man, im Gegensatz zu allen anderen, Zuschlag bezahlt hat. Dem dummen Geschwätz kann man sich ja schon nicht entziehen, und noch mehr Unannehmlichkeit geht einfach nicht. Die Story von den Demos will nicht enden, man hätte glauben können, die Frau alleine hätte die DDR befreit und alle ihre Brüder und Schwestern gerettet. Sie entblödet sich allerdings auch nicht, nächtens in einem proppenvollen Zug nach Köln zu fahren, um 100 DM zu kassieren. Sie kann sich jedoch eines großen Zuspruches ihrer Genossen erfreuen, die in einem Tenor antworten und beipflichten. Da haben sie doch jahrelang gedarbt, aber, jetzt sind sie mal dran.

Man kann versuchen, die Ohren auf Durchzug zu stellen, was aber leider nicht ganz gelingt. Die Alte quatscht und quatscht und ist auch noch stolz drauf, angesichts des Beifalls ihrer Mitleidenden. Sie ist ja schließlich ein Opfer, und das soll hier und jetzt endlich mal jeder wissen, und endlich darf sie es ja nun auch mal sagen.

 Aufs Klo gehen, daran ist nicht mehr zu denken. Einmal, kann man den Platz nicht aufgeben, zum anderen ist auf dem Gang kein Durchkommen.  Etwas Kurioses spielt sich da draußen ab. Natürlich müssen die Kinder auch mal austreten, und weil da nix geht, werden sie einfach über die Köpfe hinweg von Hand zu Hand weitergereicht. Sehr einfallsreich, das sagt man den Ossis ja nach, dass sie, in Ermangelung von Möglichkeiten, sehr erfinderisch sind. Dieser Über-Kopf-Verkehr in beide Richtungen hält die ganze Fahrt über an.

             Jetzt kommt Halle, und da kann man etwas erleben, was man nun wirklich nie für möglich gehalten hätte. Auch dieser Bahnsteig ist schwarz von Menschen und es ist eigentlich nicht zu glauben, dass die alle noch in den Zug wollen, aber, sie wollen. Das erste, was bis zum Abteil durchdringt ist die allgemeine Unruhe, dann geht ein Geschiebe und Gedränge los, das sich bis ins Abteil fortsetzt, und man bekommt es mit der Angst, denkt, die drängen und schieben so lange, bis man auf der anderen Seite zum Zug raus fällt,  Panik kommt auf, man glaubt zu ersticken, macht die Schultern breit und ist fest entschlossen, kein Jota zu rücken. Mit Entsetzen sieht man draußen am Fenster Leute hängen, die krallen sich irgendwie fest und rufen: „wir wollen doch auch mit“, oder“ lasst uns noch rein“. 

Ganz unvermittelt gibt es einen Ruck, und der Zug fährt an, mit offenen Türen. Dabei springen einige in einem zivilisierten Land geschieht. Man hört jetzt nach und nach die Türen schlagen, und der Zug nimmt Fahrt auf. Zu Hause zwängt man sich ja auch mal in eine überfüllte Bahn, aber das ist dann für ein paar Minuten, und man steigt wieder aus. Hier glaubt man ja, es geht um Leben und Tod, und die würden noch Stunden so verharren müssen, es ist nicht zu fassen. Und dann noch die Koffer und Taschen, die alle dabei haben, die machen alles noch voller. Deren Sinn wird sich erst später erschließen.

Indes wird die Luft immer dicker in dieser Sardinenbüchse, und man kommt nicht umhin, die Fenster mal aufzumachen, was aber sofort Durchzug und Kälte zur Folge hat. Wenn man das Fenster dann schließt, reißt die Demo-Tante es wieder auf. Aber, das ist das kleinere Übel.

Gerüche und Ausdünstungen machen sich breit, die lebhaften Gespräche verebben etwas, was dem Sauerstoffmangel geschuldet ist, und das ist auch nicht zu verachten. Endlich hält die Miss Demo mal das Maul, man kann ihre Heldentaten schon singen.

Eine mehr oder weniger kleine Unterbrechung haben sie noch vor sich, da können sie sich etwas die Beine vertreten, oder auch nicht.

Jetzt kommt nämlich eine Lautsprecherdurchsage:

„ Wir nähern uns der Staatsgrenze, Halten sie ihre Personalpapiere bereit. Nachdem der Zug hält, steigen sie alle aus, stellen sich am Bahnsteig auf und halten ihre Papiere geöffnet zur Ansicht für die Grenzbeamten bereit. „ Na ja, oder so ähnlich.

Der Zug hält am Grenzübergang Debisfelde. Und alle steigen aus und stellen sich am Bahnsteig auf, in Reih und Glied, und sie halten ihre Papiere vor sich wie Schilder, die Gesichter ausdruckslos, wie versteinert, und es wird kein Wort mehr gesprochen.

Alle, bis auf uns, wir bleiben einfach sitzen, denken nicht mal dran, sich auf den kalten Bahnsteig zu stellen und scheinbar denkt von den Zöllnern keiner daran, dass es jemand wagen könnte, dem Aufruf nicht zu folgen. Dann  geht doch einer durch den Zug, und als er auf uns trifft, die wir seelenruhig dasitzen, nimmt er wortlos die Pässe entgegen, und macht den Ausreisestempel rein. Stempel rein und Teng. Das mit den Wagenpapieren kann der Zöllner hier ja gar nicht wissen, das war nie relevant, nicht für uns, da hat der blöde Zöllner an der Grenze ganz schön dumm gequatscht. Und wir sind dem auf den Leim gegangen und haben uns fast in die Hose geschissen.

         Gemütlich hinterm Abteilfenster sitzend, kann man fasziniert das Schauspiel beobachten, das sich i draußen bietet. Gehört hatte man ja einiges, aber dass es so was wirklich gibt, erstaunt schon. Dabei waren zu diesem Zeitpunkt die Kontrollen sicher nicht mehr so streng wie früher, und man kann sich lebhaft vorstellen, dass sie da wahrscheinlich mit Hunden den Zug durchsucht haben, oder so. Auf der anderen Seite gab es da natürlich nicht diese Masse in den Zügen, logisch. Wie auch immer, die Prozedur dauerte endlos lange, während dessen sich Mann Frau und Kind in der Kälte die Beine in den Bauch stehen durften. Bestimmt hat jetzt auch die Demo-Tante längst kein so großes Mundwerk mehr, und die Zöllner werden ihres neu gestärkten Selbstbewusstseins leider nicht teilhaftig. Die Menschen ertragen auch diese Schikane mit stoischer Ruhe, und das alles nur, um nach Köln zu fahren, 100 DM zu kassieren und dann einkaufen zu gehen. Einkaufen? das ist die Lösung für die Koffer, da machen sie alles rein, natürlich.  

Erstaunlich ist die Disziplin, mit der alle wieder einsteigen, kein Gedränge, kein Geschiebe, und jeder scheint genau den Platz wieder einzunehmen, den er vorher hatte, leider auch die Demo-Freundin, nicht mal die Sitzordnung wird geändert, und die Montagsfrau denkt auch nicht daran, mal einem ihrer Leidensgenossen ihren Sitz anzubieten, nicht mal einem Kind; soviel zur Solidarität. Irgendwann geht es endlich weiter, und jetzt gibt es natürlich neuen Gesprächsstoff. Nun wird geschimpft auf die schikanösen Grenzformalitäten, denen man sich gerade noch in Hab Acht-Stellung mit Ergebenheit unterzogen hat.

Was wäre eigentlich passiert, wenn niemand ausgestiegen wäre, wenn mal jemand den Mut gehabt hätte, sich zu beschweren? Hätten die Zöllner alle rausgeprügelt, oder in den Zug geschossen, oder ihn ausgeräuchert und alle verhaftet? Sicher nicht, angesichts des Gedränges im Zug hätten sie wahrscheinlich ganz auf Kontrollen verzichtet und den Zug weiterfahren lassen. Schließlich hatten sie das bei der Grenzöffnung ja auch getan, sie haben die Schlagbäume gehoben, und die Leute einfach rausspazieren lassen. Jetzt wo sie doch wissen, dass sie das Volk sind, hätten sie es doch mal ausprobieren sollen. Das hätte  Respekt eingeflößt, aber das ist natürlich leicht gesagt;

Buckeln und kuschen das gibt es ja überall, und wenn man nicht auffallen will, dann hält man das Maul, zumal, wenn man mit Pressalien rechnen muss. Aber, dann sollte man es andernorts auch nicht so weit aufreißen.

Die Pässe liegen noch auf dem Fensterbrett, und da sieht die Heldin der Freiheit sie sofort. Ihr Gesichtsausdruck ändert sich merklich und man fragt sich, was die wohl die ganze Zeit geglaubt hat, wer die sind. Vielleicht privilegierte Ossis mit Westkontakt? Jedenfalls nehmen ihre Auslassungen merklich ab, werden vor allem leiser.

Vielleicht denkt sie jetzt an Spione? Auch gut, Hauptsache endlich mal Ruhe. Auch alle andern scheinen  etwas in sich zu gehen, die Erleichterung, endlich im Westen zu sein, nimmt vielleicht auch von ihnen Besitz. Die Zugentleerung hatte die Luft im Abteil für kurze Zeit etwas verbessert, das ändert sich aber schnell wieder, und die Übelkeit wird mit einer Zigarette bekämpft. Gemeckert wird jetzt nicht mehr.

Jetzt ist es bald vorbei, schlimmer, wie alles vorher, kann’s ja nicht mehr werden.

Der Zug hält in Hannover, Dortmund, Düsseldorf. Es scheint nicht, als sei da jemand ausgestiegen, fragt sich, wo die ihre 100 DM bekommen, vielleicht schon am Zoll? Ist auch egal, als der Zug gegen acht Uhr endlich den Kölner Hauptbahnhof erreicht streben jedenfalls alle eilig dem Ausgang zu.

Endstation Köln, noch nie so erleichtert und überglücklich auf einem Bahnsteig ausgestiegen.

Allein die Luft scheint hier anders zu sein. Das liegt aber auch an den Düften, die von den Gängen heraufströmen. Der Duft der Freiheit. Der Zug spuckt einen aus in eine geschäftige, betriebsame, warme, wohl duftende, helle Unterwelt, aus der man zur Domplatte aufsteigt, wie Phönix aus der Asche.

Das Verlangen nach einem ordentlichen Kaffee und einem ausgiebigen Frühstück hält nach einem Café Ausschau, nachdem man in Köln, am Bahnhof, neben dem Dom, auch nicht lange suchen muss.

Einheimelnd und warm empfängt es die Gäste, und da kommt auch schon die gute Fee und fragt nach den Wünschen, die auch prompt und freundlich erfüllt werden. Ein umfangreiches Spezialfrühstück muss es sein und schon fühlt man sich wieder unter den Lebenden.

Durch die großen Fensterscheiben sieht man die Brüder und Schwestern mit ihren Koffern vor den noch geschlossenen Geschäften schon wieder warten. Die Geduld dieser Ossis scheint ohne Grenzen. Man empfindet plötzlich gar so etwas wie Scham, Scham darüber, dass man Menschen dazu bringen kann, sich derart bloß zu stellen, denn das bedeutet das Ganze in diesem Licht. Und man bedauert sie fast dafür, dass sie eines Tages sehen werden, dass der goldene Westen gar nicht so golden ist. 

Der nächste Zug geht jetzt nach Hause, in das schöne beschauliche Heimatdorf, das plötzlich der schönste Ort der Welt zu sein scheint.